„I have no idea“ – Wissensasymmetrien in Frage-Antwort-Sequenzen

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von Kristin Lenßen.

In sozialen Interaktionen treffen Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven, Erfahrungen und Wissensständen aufeinander, um gemeinsam zu kommunizieren. Dabei zeigen sie sich stets wechselseitig an, über welches Wissen sie verfügen, indem sie ihre Meinungen und Ideologien äußern sowie Fakten, Bewertungen und Positionierungen schildern (vgl. Liebscher / Dailey-O’Cain 2014: 108). Diese Demonstration von Wissen und/oder Unwissen hat Auswirkungen auf die sequenzielle Ordnung von Gesprächsbeiträgen und lässt sich somit systematisch untersuchen.

Forschungsinteresse

In meiner Bachelorarbeit habe ich mich mit der Frage beschäftigt, wie Interagierende ihr Wissen innerhalb von Gesprächssequenzen deutlich machen und inwieweit dies die weitere Interaktion beeinflusst. Mein Forschungsinteresse widmet sich somit den Äußerungen und Verhaltensweisen, die Teilnehmende in Frage-Antwort-Sequenzen als relativ wissend (K+) oder relativ unwissend (K-) kennzeichnen.

Wissen in der Interaktion

Das, was wir alltagssprachlich unter Wissen verstehen, wird in der Gesprächsforschung als Epistemik definiert und bezeichnet allgemein das Vermitteln von Informationen an unwissende Gesprächspartner*innen. Dabei wird zwischen epistemischem Status – dem gegenseitigen Verständnis darüber, wer was weiß – und epistemischer Haltung – der situativen Darstellung dieses Wissens im Gespräch – unterschieden (vgl. Heritage 2013: 31, 376f.). Interagierende müssen ihre epistemische Haltung stets an ihren tatsächlichen epistemischen Status anpassen und gleichzeitig den Status ihrer Gesprächspartner*innen berücksichtigen, denn nur so wird ihre Haltung für andere nachvollziehbar (vgl. ebd.: 378). Wer mehr Wissen über ein Thema hat verfügt über epistemische Autorität.

Datenmaterial 

Grundlage der Arbeit bieten audiovisuelle Aufzeichnungen einer natürlichen Konversation zwischen den drei Studentinnen Regina (REG), Wiebke (WIE) und Greta (GRE), von denen drei Fälle für die konversationsanalytische Auswertung ausgewählt wurden. Die Daten wurden nach GAT 2 (vgl. Selting et al. 2009) transkribiert und durch multimodale Annotationen von Blick und Gestik ergänzt (vgl. Mondada 2018).

Multimodale Analyse von epistemischen Haltungen

In einem der Fälle sprechen die Teilnehmerinnen über das Thema der arrangierten Ehe, mit der Regina aufgrund ihres kulturellen Hintergrunds bereits erste Berührungspunkte gemacht hat und über Vorwissen verfügt. Damit lässt sich Regina als K+ mit epistemischer Autorität bezeichnen. In der Sequenz erzählt sie Wiebke und Greta, dass ihre Eltern ihr einen potenziellen Ehemann vorstellen wollten, der Regina jedoch zu alt war und aufrgrund seines Wohnsitzes in Dubai zu weit entfernt wohnte. Darauf reagiert Wiebke mit einer Frage (s. Z.002), die sich auf seinen möglichen Wohlstand bezieht:

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Die steigende Prosodie am Ende von Wiebkes turn kennzeichnet ihre Äußerung als eine Frage, mit der sie Informationen von einer relativ wissenden Teilnehmerin (K+) verlangt und sie im Zuge dessen als relativ unwissend (K-) markiert (vgl. Heritage 2012: 33). Mit ihrer Unwissenheit ist eine epistemische Unsicherheit verbunden, die sich an den deutlichen Sprachproduktionsproblemen zeigt, die einer Wortfindung geschuldet sind. Wiebke stolpert zunächst über den Begriff „Scheich“ (Z.002) obwohl sie durch die Formulierung des „sch“-Lautes bereits nah an den Begriff herankommt. Sie führt eine self-initiated repair durch, indem sie den Vokal des Wortes noch innerhalb ihres turns verändert und aus dem „scha“ ein „schei“ macht (vgl. Schegloff / Jefferson / Sacks 1977: 366). Ihr relativer epistemischer Status beschränkt sich bei dem Thema der arrangierten Ehe auf oberflächliche Stereotype.

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Als Wiebke ihre Selbstkorrektur mit „yeah scheich“ (s. Z.006, s. Abb. 3) schließlich vollendet, reagiert Regina mit einer sehr starken verbalen und körperlichen Ablehnung (s. Z.007). Sie wiederholt mehrfach die Verneinung „no“ (Z.007) und dreht dabei ihren Körper etwas nach hinten und zur Seite. Sie neigt ihren Kopf nach links und streckt ihre Hand nach vorne aus und ‚blockiert‘ somit Wiebkes Äußerung (s. Abb. 4). Mit ihrer körperlichen Haltung und der verbalen Verneinung zeigt Regina, dass sie die epistemische Haltung, die Wiebke mit ihrer Äußerung des „Scheichs“ ausdrückt, ablehnt (vgl. Liebscher / Dailey-O’Cain 2014: 108).

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Ihre Verneinung der Äußerung führt dazu, dass Wiebke ihre epistemische Haltung modifiziert, indem sie ihre Behauptung, dass der potentielle Ehemann von Regina ein Scheich sein könne, durch die Äußerung „just kidding“ (Z.010) degradiert (vgl. Heritage 2013: 380). Reginas starke Ablehnung hat ihr gezeigt, dass ihre Vermutung falsch und ihre Äußerung unangebracht war. Demzufolge korrigiert sich Wiebke selbst, indem sie ihre Äußerung als einen Witz darstellt und ihr folglich weniger Wert zuschreibt. Regina reagiert drauf mit einem gedehnten „yeah“ (Z.011) und schließt so die Diskussion.

Fazit

Dieser Fall zeigt, dass die Teilnehmenden in der vorliegenden Interaktionssequenz ihre epistemischen Haltungen füreinander accountable, also nachvollziehbar, machen, indem sie Fragen formulieren und entsprechende Antworten präsentieren. Wiebke positioniert sich durch ihre Frage als stark K- und erfährt damit eine Ablehnung ihrer epistemischen Haltung durch Regina, die sich als K+ mit epistemischer Autorität positioniert. Ihre Ablehnung äußert sie multimodal durch eine körperliche Haltung und die Wiederholung einer verbalen Verneinung. Wiebke modifiziert daraufhin ihre Äußerung als einen Versuch, weniger stark unwissend dazustehen. Wiebke zeigt in der gesamten Sequenz Unsicherheiten in Bezug auf die Sprachproduktion, aber auch ihrer Wissensdomäne an, was sich besonders in ihren Selbstreparaturen äußert. 

Zusammenfassend konnte ich mit meiner Bachelorarbeit zeigen, dass die Initiierung der Frage-Antwort-Sequenz von den Teilnehmerinnen ausgeht, die sich als K- positionieren. Damit fordern sie die Teilnehmerinnen mit mehr Wissen zu einer Vermittlung von Informationen auf und koordinieren somit den sequenziellen Verlauf der Interaktion. Dabei spielt auch die Multimodalität der Sprache eine zentrale Rolle, da diese Auswirkungen auf die sequenzielle Ordnung und turn-Produktion hat. Neben der Koordination von turns über Fremdwahlen, richten die Teilnehmerinnen ihre Blicke aufeinander aus und schreiben sich so wechselseitig die Berechtigung zum Sprechen und Erklären zu. Zudem können sie mit ihrem Blickverhalten die Aufmerksamkeit ihrer Rezipientinnen überprüfen und diese mithilfe von körperlichen Ressourcen wie Gesten steuern. Bei der Aushandlung von epistemischen Handlungen werden neben multimodalen Ressourcen auch Reparaturmechanismen angewandt, die die epistemischen Positionierungen maßgeblich beeinflussen und die Interaktion vorantreiben.


Literaturverzeichnis

Heritage, John (2012): The Epistemic Engine. Sequence Organization and Territories of Knowledge, in: Research on Language and Social Interaction, 45, S. 30 – 52.

Heritage, John (2013): Epistemics in Conversation, in: Sidnell, J. / Stivers, T. (Hrsg.): The Handbook of Conversation Analysis. Blackwell Publishing Ltd.

Liebscher, Grit / Dailey-O’Cain, Jennifer (2014): Die Rolle von Wissen und Positionierung bei Spracheinstellungen im diskursiven Kontext, in: Sprechen über Sprache. Perspektiven und neue Methoden der Spracheinstellungsforschung, S. 107 – 121.

Mondada, Lorenza (2018): Multiple Temporalities of Language and Body in Interaction. Challenges for Transcribing Multimodality, in: Research on Language and Social Interaction, 51, S. 85 – 106.

Schegloff, Emmanuel A. / Jefferson, Gail / Sacks, Harvey (1977): The Preference for Self-Correction in the Organization of Repair in Conversation, in: Language, 53 (2), S. 361 – 382. 

Selting, Margret. et al. (2009): Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem 2 (GAT 2), in: Gesprächsforschung, 10, S. 353 – 402.


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